Die Verantwortlichen und Beteiligten des Modellprojekts Inklusion jetzt! - Entwicklungen von Konzepten für die Praxis nehmen die Änderungen in § 107 (2) SGB VIII RegE mit großer Sorge wahr. Im Wortlaut heißt es:
"§ 107
Übergangsregelung
(2) Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend untersucht in den Jahren 2022 bis 2024 die rechtlichen Wirkungen von § 10 Absatz 4 und legt dem Bundestag und dem Bundesrat bis zum 31. Dezember 2024 einen Bericht über das Ergebnis der Untersuchung vor. Dabei sollen insbesondere die gesetzlichen Festlegungen des Achten und Neunten Buches Sozialgesetzbuch 1. zur Bestimmung des leistungsberechtigten Personenkreises,
2. zur Bestimmung von Art und Umfang der Leistungen,
3. zur Ausgestaltung der Kostenbeteiligung bei diesen Leistungen und
4. zur Ausgestaltung des Verfahrens
untersucht werden mit dem Ziel, den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten, insbesondere einerseits keine Verschlechterungen für leistungsberechtigte oder kostenbeitragspflichtige Personen und andererseits keine Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten sowie des Leistungsumfangs im Vergleich zur Rechtslage am 1. Januar 2023 herbeizuführen, sowie Hinweise auf die zu bestimmenden Inhalte des Bundesgesetzes nach § 10 Absatz 4 Satz 3 zu geben." (Reg-E KJSG 2021: 32).
Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland dazu verpflichtet, die notwendigen und hinreichenden Maßnahmen zur Teilhabeermöglichung aller jungen Menschen zu schaffen. Der Referent*innenentwurf des Bundesministeriums normierte zwar eine wichtige Richtung hin zu einer inklusiven Lösung, hätte aber - und darin waren sich die zahlreichen Stellungnahmen einig - die Weichen für ihre konkrete Umsetzung noch stärker stellen müssen. Der aktuelle Regierungsentwurf zementiert nun allerdings entgegen überwältigender fachlicher Expertise den Status Quo und damit auch die ungleiche Behandlung von jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.
Die bisherige Aufteilung von Zuständigkeiten für junge Menschen mit (drohender) seelischer und (drohender) körperlicher oder geistiger Behinderung hat sich nicht bewährt und führt in der Praxis zu zahlreichen Schnittstellenproblematiken, die zu Lasten der Fachlichkeit und vor allem der jungen Menschen und ihrer Familien gehen.
Nichtsdestotrotz wird die Regelung einer Gesamtzuständigkeit für junge Menschen mit und ohne Behinderung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zunächst von einer Gesetzesfolgenabschätzung abhängig gemacht: die Übergangsregelung in § 107 SGB VIII RegE sieht eine entsprechende Untersuchung vor, mit der die sogenannte "inklusive Lösung" in den Schatten ihrer Kostenneutralität gestellt wird. In Absatz 2 dieser Norm wird die genannte Untersuchung mit dem Ziel durchgeführt, "den leistungsberechtigten Personenkreis, Art und Umfang der Leistungen sowie den Umfang der Kostenbeteiligung für die hierzu Verpflichteten nach dem am 1. Januar 2023 für die Eingliederungshilfe geltenden Recht beizubehalten".
Damit einher geht nicht weniger als die gesetzliche Festschreibung, dass die künftige Reform zwar die Zuständigkeit für bestimmte Eingliederungshilfeleistungen verlagern, aber an den bestehenden Leerstellen für junge Menschen und ihre Familien nichts ändern soll. Dem fachlichen Anspruch und Qualitätsmerkmal einer inklusiv ausgerichteten Kinder- und Jugendhilfe steht diese Festschreibung entschieden entgegen. Während Teilhabebarrieren damit in bestimmten Leistungsbereichen abgebaut werden, werden sie in anderen verschärft.
Dies würde allem Innovationswillen in der Praxis die Luft abschneiden und fachlich notwendige Weiterentwicklungen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe verhindern. Die normative Kraft hinter dieser Übergangsregelung konterkariert das Bekenntnis der politisch Verantwortlichen "Jedes Kind ist erst einmal ein Kind" (Ministerin Giffey am 02.12.2020).
Wenn es um die Herstellung sozialer Teilhabe für alle jungen Menschen in einer inklusiven Gesellschaft geht, dürfen nicht kurzfristige und kurzsichtige monetäre Zweckrationalitäten im Vordergrund stehen!
Die Verantwortlichen und Beteiligten des Modellprojektes plädieren daher für eine verbindliche gesetzliche Festschreibung der "inklusiven Lösung" und für eine Streichung des § 107 (2) SGB VIII RegE. Aus unserer Sicht ist es notwendig, dass die Arbeit am künftigen Bundesgesetz unmittelbar in der kommenden Legislaturperiode beginnt. Die Übergangsphase ist zu lang angesetzt und die Änderung dahinter zu kurz gedacht! Um den Bedarfen der Hilfesuchenden gerecht zu werden, muss die Zielsetzung der prospektiven Gesetzesfolgenabschätzung die Verbesserung für betroffene junge Menschen und deren Familien im Blick haben sowie Innovation fördern!
Freiburg, Hannover
19. Februar 2021